Es begann mit einem Auftragswerk: Wolfgang Koeppen sollte 1986 für das „Zeit“-Magazin porträtiert werden. In jenem Jahr war es auch, daß die Fotografin Nomi Baumgartl zum ersten Mal den privaten Kosmos des Schriftstellers an der Münchener Widenmayerstraße 45 betrat. Dort lebte er seit 1967 mit seiner Ehe- Frau Marion, nach ihrem Tod im Jahr 1985 allein. Eine Vier-Zimmer-Wohnung in einem großbürgerlichen Jahrhundertwende-Haus mit idyllischem Blick auf die von dichten Laubbäumen gesäumte Isar, von ihr getrennt durch die laute mehr-spurige Straße, deren Verkehrslärm selbst bei geschlossenen Fenstern als stetigesGrundrauschen in die dunklen, hohen Räume drang. Für Wolfgang Koeppen verkörperte diese Adresse das „Gehäuse eines Hieronymus“, eine „zerklüftete Landschaft“ mit „Gletschergeröll“ aus Büchern, „auf den spiegelglatt gefrorenen Fußboden gerutscht“, und einer „Sintflut“ aus Zeitungen. Der Schriftsteller schrieb selbst die Texte zu den entstandenen Porträts: „Ich über mich“ — schelmische Eulenspiegeleien, in denen er spielerisch Fahrten legte, um sie blitzschnell wieder zu zerstreuen: Ego contra Maske, Zeigen contra Verbergen: die wechselseitige Lust am (Vexier-)Spiel war entfacht, der Wunsch nach einem gemeinsamen Buch-Projekt entstanden.

Es folgte eine weitere Auftragsarbeit: „Leader“, die damalige „Zeitschrift für Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur“ der Züricher „Weltwoche“, schickte Nomi Baumgartl und Sybille Brantl 1987 auf „literarische Spurensuche“: Es galt auf der Fährte eines Werkes von und mit Wolfgang Koeppen zu reisen — frei nach seiner Wahl. Der zu jenem Zeitpunkt über 80jährige Schriftsteller entschied sich für seinen ersten Roman „Eine unglückliche Liebe“ und für das Reiseziel Venedig, Schauplatz der Schlusssequenz und seine Lieblingsstadt zugleich. In seinem Text „Gestern in Venedig“ beschrieb er das komplexe Spiel zwischen Beobachtern und Beobachtetem in seiner Ambivalenz aus vielfältigen Brechungen und Spiegelungen wie folgt: „Die camera Obscura sind zwei, das Kameraauge und das Kameraohr. Ich saß gefangen im Auge der Kamera zwischen fünf Linsen. Das Augeder Kamera sah mich groß und klein, es zerschnitt mich, schluckte nur ein Stück von mir, den Mund, die Augen, die Stirn, die Front meines Kopfes. Es erinnerte mich an den Jahrmarkt der Kindheit, ausgeliefert den Zerrspiegeln der Optik, die Beine verkürzt, der Leib gebrochen, ein Ballon der Kopf, rund, kugelrund.“ Einzweiter Baustein des Buches lag vor.

Nun hätte Wolfgang Koeppen, zeitlebens ein leidenschaftlicher Reisender, das Projekt am liebsten zu einer Fahrt rund um den Globus gemacht: „Nach Japan!Singapur! Hongkongl“ Es wurde eine Reise in das Universum des großen Schriftstellers Wolfgang Koeppen.

Wolfgang Koeppen: Ich? bei Nomi Baumgartl und Sybille Brandl, Bibliothek der Provinz, 1996